Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 04:31 Minuten bisher gehört: 196
Zehra ist eine Figur aus einer Fernsehserie. Doch ihre Autorin Müjgan kann sie nicht wie eine Fiktion betrachten und jetzt ein Drehbuch über ihren Tod verfassen, das Klischees über türkische Familienverhältnisse reproduziert. Dem traditionellen Frauenbild verweigert sich nun auch die Drehbuchfigur und vor allem der vorgesehenen Opferrolle. Auf der Werkraumbühne des boat people projekt kommt es zu einem kämpferischen Dialog über Frauenbilder und Selbstbilder. „Schwesternherz“ heißt das Stück von Ceylan Ünal, das in der Inszenierung von Sonja Elena Schröder am 17. und 18. Mai als Wiederaufnahme zu sehen ist. Tina Fibiger stellt Ihnen die Inszenierung vor.

Manuskript

Text

Auf den alten Fotografien scheint die Sonne und auch in den Videos. Selin Kavak genießt als lächelnde „Müjgan“ ihr Leben in einer lichten Umgebung. Die Gestalt, die jetzt diese Bilder betrachtet, hat sich in einer dunklen Höhle verschanzt. Es will einfach nicht voran gehen mit dem Drehbuch für eine türkische Fernsehserie, in dem sie Motive für den Tod der Hauptdarstellerin liefern soll. Nun steht diese Figur auch noch vor ihr und protestiert gegen diese frauentypische Opferrolle, die ihr die Autorin zugedacht hat. Dabei geht es zunächst vor allem um Vorurteile und Missverständnisse, die Regisseurin Sonja Elena Schröder mit den beiden türkischen Schauspielerinnen freilegen möchte und wie sie auch den deutsch-türkischen Dialog prägen.

 

O-Ton 1 Sonja Elena Schröder, 22 Sekunden

In den Geschichten, die hier erzählt werden in den Filmen, gibt es ganz viele Stereotypen. Es sind Frauenrollen natürlich immer die Opferrollen, klar, aber wie damit umgegangen wird. Tatort ist das beste Beispiel, wenn es um Ehrenmord geht. Und in diesem Stück geht es darum, dass sich eine Figur gegen diese Stereotypen wehrt. Das eigentlich Wesentliche ist, dass sie versucht, diese andere Figur zu politisieren.“

 

Text

Mit ihrem Erscheinen unterwandert Senem Süla als „Zehra“ zunächst den tristen Alltag von Müjgan, die seit drei Jahren in Berlin vereinsamt, weil Ehemann Franz vor allem mit seiner Karriere beschäftigt ist. Die türkische Nachbarin drängt ständig auf die Einhaltung von muslimischen Ritualen und das immer noch auf Türkisch, auch wenn sie bereits seit 30 Jahren in Deutschland lebt. Türkisch sprechen auch Freunde und Verwandte, die Mutter, der Vater und der Filmproduzent mit seiner Assistentin, die in Videos eingeblendet und mit deutschen Untertiteln versehen werden. All das würde Müjgan gern vor ihrer störrischen Besucherin verbergen: Dass sie ohne Laptop, iPhone und Skype völlig verkümmern würde und dass in diesen Bilder von zu Hause auch sehr selbstbewusste, emanzipierte Frauenstimmen zu Wort kommen. Aus diesen Stimmen setzt sich für die Regisseurin auch das widersprüchliche Portrait von Müjgan zusammen.

 

O-Ton 2, Sonja Elena Schröder, 17 Sekunden

Sie steht ja am Ende einer langen Reihe von Frauengeschichten, die sie alle in ihrem Rücken hat. Dadurch entsteht ein Kaleidoskop von Frauengeschichten oder Frauen, wie man sie sehen kann, ohne dass man sagen muss, sie ist automatisch Opfer. Sie muss nicht immer Opfer sein.“

 

Text

„Schwesternherz“ hat die Form eines surrealen Szenarios, das die Zuschauer auch in ihrer Fantasie herausfordert. Schließlich macht sich in diesem Stück eine literarische Figur selbstständig, die ihrer Verfasserin nicht nur permanent widerspricht, sondern auch einen Lebensentwurf verkörpert, der viel realistischer und selbstbestimmter anmutet als der der Schreibhöhlenbewohnerin. Die muss sich nun unbequemen Fragen stellen, warum sie zum Beispiel junge Frauen aus ländlich ärmlichen Verhältnissen automatisch für unterdrückt hält. Gastarbeiterschicksale kennt die Autorin auch nur aus Erzählungen, ebenso wie die patriarchalen Familienstrukturen, die sie ihrer Figur andichtet. Die hat sie in ihrem liberalen Elternhaus nie erlebt. Die Regisseurin von „Schwesternherz“ beschreibt eine Autorin, die sich mit ihrer Haltung und ihren Bildern beim Schreiben immer wieder im Weg steht.

 

O-Ton 3, Sonja Elena Schröder, 22 Sekunden

Menschen, die etwa sagen können wie diese Autorin, die hat die Freiheit, eine Geschichte zu erzählen und sie hat die Freiheit sie so zu erzählen, dass ein neues Bild, dass etwas anders erzählt wird. Am Ende passiert eine Art von versuchtem Neuanfang. Sie versteht, dass sie das Heft der Handlung in der Hand hat. Sie ist die Akteurin. Sie kann sie sein während sie vorher wie eine Gummiwand nur war.“

 

Text

Vor dem Drucker stapeln sich die Blätter mit den Todesszenarien, während Müjgan sich an einer differenzierteren Drehbuchfassung versucht, die von der Fernsehredaktion abgeschmettert wird. Zehras Kampfansage, “Du bist verantwortlich für alles, was Du nicht schreibst und sagst“, kommt nur scheinbar zu spät. Ihre Autorin hat zu einer aufrechten Haltung gefunden, so wie ihre Drehbuchfigur. Die war vielleicht nur eine Stimme im Kopf, aber zumindest eine, die sie künftig bestärken wird, tradierte Rollenbilder und vertraute Stereotypen anzuzweifeln.